Zeitlich befristete Internet Präsentation

2021-05-10 .. 2021-06-02


pragma SUPRESS;


Josella Simone Playton


"Wir stehen jetzt in der vorderen Arbeitskanzel des Wartungsturmes. Die Höhe über Grund ist genau dieselbe wie die des Kessels: 500 Meter. Der Wartungsturm ist 250 Meter von dem Kesselturm abgezogen worden, damit er nicht durch die konzentrierte Strahlung beschädigt wird. Kommen Sie hierher, bitte."

Wie eine Herde Schafe trottelten die Touristen hinter dem jungen Mann hinterher, der sich am Anfang der Führung als Balduin vorgestellt hatte. Er verdiente sich in den Semesterferien ein Zubrot, indem er Touristen durch die Einrichtungen eines der größten Solarkraftwerke der Welt schleuste und dabei fundierte Erläuterungen zum besten gab. Er hatte es offenbar schon sehr oft gemacht, weil er sehr flüssig und vielleicht ein bißchen gleichgültig redete.

"Die vorderste Wartungskanzel ist 50 Meter ausladend am Turm angebracht. Deshalb sind wir jetzt nur 200 Meter von dem Kessel entfernt. Sie haben ja gesehen, daß der Wartungsturm einem großen Kran ähnelt."

Er betätigte einen Schalter.

"Sehen Sie den Kessel nicht direkt an. Das Kraftwerk arbeitet unter voller Leistung, und es ist gleicht Mittag. Das heißt, der Kessel wird zur Zeit durch alle Spiegel beheizt. Er wird so hell angestrahlt, daß Sie mit Sicherheit Augenschäden davontragen würden. Und das, obwohl der Kessel mit absorbierendem Material beschichtet ist und eine effiziente Rippenstruktur hat, um auch wirklich alle Strahlung vollständig einzufangen. Ohne Bestrahlung sähe der Kessel schwarz wie Kohle aus."

Das war nicht übertrieben. Als sich der Beobachtungsschlitz immer weiter öffnete, schien draußen vor dem Fenster die Sonne zu schweben. Das grelle Licht, das von dem Kessel zurückgeworfen wurde, war so intensiv, daß man überhaupt nichts erkennen konnte, weder vom Kessel selbst, noch von der Aussicht über die öde Wüste.

"Sie sollten diese Schutzbrillen verwenden. Hier. Sie sind neu, und Sie können sie behalten."

Nachdem Balduin die Brillen verteilt hatte, fuhr er fort:

"Wie ich Ihnen schon unten am Modell erläutert hatte, wird das Sonnenlicht von zahllosen Spiegeln auf den Kessel geworfen. Die Spiegel sind auf sieben Quadratkilometern rund um den Kesselturm aufgestellt. Jeder Spiegel wird individuell vom Zentralrechner nachgeführt. Die maximale Gesamtleistung des Kraftwerkes ist bei höchstem Sonnenstand etwa 2 Gigawatt. Das ist soviel, daß die Leistung, die vom Gebiet des Kraftwerkes weggenommen wird, sich sogar auf das Klima direkt hier am Standort auswirkt: Unter den Spiegelfeldern ist Landwirtschaft möglich. Draußen in der Wüste nicht."

Einer der sonnenbebrillten Touristen, ein Herr mittleren Alters, meldete sich:

"Wo ist denn der Rechner?"

"Haben Sie die Empfangsgebäude, wo Sie das Areal betreten haben, noch in Erinnerung? Da ist alles, was die Verwaltung des Kraftwerkes betrifft, und da auch die ganze Elektronik untergebracht. Der Kesselturm enthält nur den Kessel, ganz oben, fünfhundert Meter über dem Boden, und in seinem Schaft die Turbinenanlagen und die Umspanneinrichtungen. Und der Wartungsturm macht nur das, was sein Name sagt: Meistens nichts, oder er fährt an den Kesselturm heran, um Wartungsarbeiten an dessen Außenseite auszuführen. So etwa wie der Wartungsturm an einer startbereiten Rakete."

"Und dann wird das Kraftwerk abgestellt?" fragte ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen.

"Oh ja. Die Spiegel werden dann so gesteuert, daß die Strahlen sich etwa einen Kilometer über Grund kreuzen, 500 Meter über dem Kessel. Der Wartungsturm könnte die intensive Bestrahlung nicht aushalten. Und die Techniker auch nicht."

Einige der Zuhörer lachten kurz. Balduin lachte nicht, er erzählte diesen schwachen Witz ja jedesmal. Er sah jetzt seine Zeit gekommen für seine - wie er meinte - brilliante Darlegung der technischen Details. Er schaute noch einmal in die Runde, ob auch alle zuhörten, und fuhr fort:

"Ich habe noch etwas über die Rechnersteuerung unterschlagen. Wie Sie wissen, bewegt sich die Sonne am Himmel alle zwei Minuten um den eigenen scheinbaren Durchmesser weiter. Es ist also nicht nötig, die Spiegel permanent nachzusteuern. Bei uns erhält jeder Spiegel alle 32 Sekunden eine neue Position, wenn sich für ihn überhaupt die Orientierung ändert. Wir haben 65536 Spiegel, jeder hat eine Fläche von 64 Quadratmetern. Das heißt, für jeden Spiegel stehen 488 Microsekunden zur Verfügung, um aus Sonnenstand und Sollfocus die Spiegelorientierung neu auszurechnen. Genaugenommen ist es noch weniger, weil der Rechner auch die Lastanpassung an das Netz übernimmt und entscheidet, wieviele Spiegel überhaupt eingesetzt werden müssen. Außerdem ist da noch die ganze Turbinensteuerung, wie sie in jedem Kraftwerk nötig ist. Mit einem kleinen PC kommt man da nicht hin. Das liegt aber weniger an der notwendigen Rechenleistung - die steht heute schon in jedem Kinderzimmer - sondern an den zahlreichen Schnittstellen zu Stellgliedern, Schrittmotoren und Sensoren."

Balduin überlegte kurz, ob die Gruppe noch genug Interesse für weitere Erläuterungen zeigte. Er entschied sich dafür.

"Wenn Sie das Rechenzentrum beträten, dann könnte es gut sein, daß Sie den eigentlichen Rechner übersehen. Das meiste, was da rumsteht, sind Schränke mit den vielen Anschlüßen der Leitungen, die von dort in das Spiegelmeer führen, und in andere Teile des Kraftwerkes. Man hätte eine wesentlich unauffälligere optische Ringleitung installieren können. Bei einigen anderen Kraftwerken ist das auch geschehen. Aber soweit ich weiß, hat die Gesellschaft ein Sonderangebot ausgenutzt, einen größeren Posten alter Telemetrie- und Telemotorik-Hardware. Eindrucksvoll anzusehen, aber veraltet. So wie das Management hier."

Einige der Touristen lachten pflichtschuldigst, aber die meisten Zuhörer schienen beeindruckt. Nur das zwölfjährige Mädchen nicht:

"Mmh. Und wenn da ein Flugzeug drüberfliegt?"

Das war's. Noch nie hatte er seinen Vortrag ungestört vollenden können. "Fatal. Aber das Gelände darf nicht überflogen werden. Nicht in solch niedriger Höhe." antwortete er etwas lustlos.

"Kann man auf höher fliegende Flugzeuge fokussieren?" fragte jemand aus der hinteren Reihe.

"Im Prinzip ja. Aber wegen des scheinbaren Durchmessers der Sonne hat der Brennfleck in 10 Kilometern Höhe schon einen Minimaldurchmesser von hundert Metern. Die Flächenleistung wäre immer noch dreihundert mal größer als normales Sonnenlicht. Aber man müßte den Brennfleck schon einige Sekunden nachführen, um einen Schaden zu bewirken, und man müßte dieses schnell tun - was nicht möglich ist, mit unseren Spiegeln. Und, um Ihrer Frage vorzukommen, auf Satelliten zu fokussieren ist völlig zwecklos. In zweihundert Kilometern Höhe kann man nur noch eine Beleuchtung erreichen, die der einfachen Sonnenstrahlung entspricht. Das Kraftwerk ist also nicht gut für militärische Anwendungen geeignet."

"Aber es könnte doch passieren ..."

"Zusätzlich," fuhr Balduin fort, dem die Fragen über militärische Solartechnik zum Halse heraushingen, "zusätzlich ist dafür gesorgt worden, daß die Fokussierung nicht auf jeden Punkt im Raume möglich ist. Schon durch die mechanische Lagerung der einzelnen Spiegel, die beliebige Bewegungen nicht zuläßt."

Er wurde unterbrochen. Von draußen hörte man eine Sirene. Wenig später quakte auch in der Wartungskanzel ein Alarmhorn. Die Touristen wurden nervös.

"Keine Aufregung, meine Herrschaften, keine Aufregung!" versuchte Balduin sich Gehör zu verschaffen, "Das kündigt irgendeinen Störfall an. Gewissermaßen haben Sie Glück gehabt: Sie können jetzt erleben, wie das Kraftwerk abgeschaltet wird. Wahrscheinlich ein Leck in einer Druckwasserleidung, oder ein unvohergesehener Lastwechsel, oder irgend so etwas. Vielleicht haben eine Million Menschen auf einmal ihren Toaster eingeschaltet! Wir sind hier ja völlig sicher. Das ist schließlich ja kein Kernkraftwerk!"

Er zeigte auf das noch offene Fenster:

"Wenn Sie den Kessel jetzt durch Ihre Schutzbrillen betrachten, dann werden Sie sehen, daß der Kreuzungspunkt der Strahlen nach oben geführt wird. Jeder Spiegel hat natürlich nicht nur einen Satz Schrittmotoren, sondern sogar einen kleinen Mikroprozessor. Einen Schwenk über viele Winkelgrade führt er völlig selbstständig durch."

Alle folgten seiner Aufforderung.

"Ich sehe nichts." sagte einer. Balduin trat selbst ans Fenster und setzte seine eigene Schutzbrille auf.

"Komisch. Der Kessel ist nicht mehr voll angeleuchtet. Eigentlich müßte man das Strahlenzelt über dem Kessel jetzt schon sehen. Es sieht sehr eindrucksvoll aus, auch von weitem. Deshalb wird das Bild auch auf alle unsere Prospekte gedruckt: Der Strahlendom von Chochinga. Man kann es ja schon in hundert Kilometern Entfernung ..."

Rechts und links des Turmes leuchteten plötzlich die entfernteren Spiegel auf. Dann ging eine Sense von Feuer durch das Spiegelfeld. Balduin begriff. Eine eiskalte Faust drehte sein Inneres um. Er hechtete zum Schalter.

"ALLES HINLEGEN! DER FOCUS KOMMT HIERHER!"

Ungläubige Gesichter. Qualvoll langsam begann der Beobachtungsschlitz, sich zu schließen. Doch dann wurde es immer heller.

"HINLEGEN, HABE ICH GESAGT!"

Sie mußten eine Chance haben. Das reflektierte Licht kam ja immer von den bodennahen Spiegeln. Wenn sie also auf dem Boden des Wartungsraumes lagen, dann wurden sie wenigstens nicht direkt von der Lichtstrahlung getroffen.

Jemand schrie, als das grelle Licht alles einhüllte. Ein Zischen war in der Luft, es brannte auf der Haut. Fenster, geh zu, dachte Balduin. Es konnte doch nur noch ein schmaler Schlitz sein.

Und, so plötzlich, wie die Lichtexplosion gekommen war, erstarb sie wieder. Das Fenster war zu. Und die Beleuchtung funktionierte nicht. Völlige Finsternis.

Jemand weinte, einige fluchten. Aus der Richtung des Aufstiegs her hörte man ein Ächzen. Stahlträger arbeiteten in ihren Verankerungen, von unvohergesehenen Temperaturbelastungen gestreckt. Balduin erwartete, daß der Boden heiß werden würde. Aber er wurde nicht. Der Focus war weitergewandert. Wohin?

"Herhören, meine Herrschaften!" rief er in die Dunkelheit, die von wabernden roten Schleiern erfüllt war. Signale der überreizten Netzhaut.

"Herhören! Ich weiß nicht, was passiert ist. Aber es ist das beste, wir verlassen des Turm so schnell wie möglich. Kann jemand was sehen? Hat jemand eine Taschenlampe?"

"Ist das die sichere Solarenergie?" fragte jemand.

"Das werden wir jetzt nicht diskutieren. Kann jemand etwas sehen?"

"Ich werde die Gesellschaft verklagen. Ich ..."

"Tun Sie das. Noch ist uns nichts passiert, wenn ich darauf hinweisen darf. Aber jetzt müßen wir erstmal runter."

Der Boden wurde immer noch nicht warm. Das war ein gutes Zeichen. Bei konzentrierter Bestrahlung durch alle Spiegel würde der vordere Wartungsraum schnell schmelzen. Aber das Geräusch aus der Richtung des Zentralschachtes des Wartungsturmes machte ihm Sorgen. Es klang wie ein Feuersturm.

"Ich sehe was." Das war vielleicht das Mädchen von vorhin, das die Frage nach dem Abstellen des Kraftwerkes gestellt hatte. Von ferne drangen Sirenengeräusche zu ihnen herein.

"Was siehst Du?"

"Rotes Licht. Ich glaube, das ist die Tür, durch die wir gekommen sind."

Balduin robbte durch die Dunkelheit. Er stieß gelegentlich jemanden an. Dann hatte er die Tür gefunden. Sie war nur angelehnt gewesen. Er öffnete sie.

Am Ende des etwa fünfundzwanzig Meter langen Ganges sah er die Umrisse der nächsten Tür. Auch sie war nur angelehnt, und rote Linien markierten sie deutlich. Er sprang rauf, rannte hin und machte sie einen Spalt weit auf. Hitzestrahlung schlug ihm entgegen. Der etwa fünfundzwanzig Meter lange Raum, der ihn von dort aus noch von dem Zentralschacht trennte, war hell erleuchtet. Die jenseitige Tür glühte rot, und auch Teile der Wände. Von dort kam auch das brausende Geräusch. Da war kein Durchkommen möglich. Sie waren auf dem Turm eingesperrt.


"Das wagen Sie mir zu sagen? Die Notabschaltung hat nicht funktioniert, und das wagen Sie mir zu sagen?"

Brochmann spielt wieder einmal Chef, dachte Lindner. Warten wir ab, was aus der Fassade wird, wenn er erst alles erfahren hat. Er setzte an:

"Sie hat funktioniert. Auch die Steuerung auf einen neutralen Focus. Nur - die Daten für den Focus sind nicht richtig. Aus irgendeinem Grunde focussiert er auf das obere Ende des Wartungsturmes. Normalerweise liegt der Nullfocus fünfhundert Meter über dem Kessel. Wir wissen nicht, warum dieser nicht benutzt wird."

"Warum ist abgeschaltet worden?" blies Brockmann sich auf.

"Druckabfall im Arbeitskessel. Signifikanter Druckabfall. Wir müßten den Kesselturm auskühlen lassen. Nur - das ist nicht das Problem."

"Was denn noch?"

"Da ist eine Gruppe Touristen auf dem Wartungsturm!"

Brockmann sagte nichts. Ihm brach der Schweiß aus. Nicht, daß er Angst um das Leben der Touristen hatte. Die hatten es wahrscheinlich schon hinter sich, und sein Vorstellungsvermögen bezüglich der Leiden anderer Lebewesen war sowieso nicht besonders ausgeprägt. Aber ihm würde man die Schuld zuweisen, gerade ihm. Er würde der Mann sein, der mit einem harmlosen Solarkraftwerk das erste Mal Menschen umgebracht hatte. Das Ende seiner Karriere schien ihm schrecklich, nicht das mögliche Ende von 30 unbekannten Touristen.

"Können wir den Focus wieder auf den Kessel fahren?" fragte er.

"Schon. Aber der steht unter vermindertem Druck. Das Kraftwerk läuft nicht mehr. Der Kessel würde Schaden nehmen. Und dann sind wir für Monate aus dem Geschäft."

"Wieso? Wenn noch Wasser in dem Kessel ist? Wie kann er dann Schaden nehmen?"

Wiewenig Manager von den Dingen verstehen, die sie verwalten müssen, dachte Lindner zerknirscht.

"Wenn der Kessel unter verminderten Druck beheizt wird, entsteht Dampf. Der Dampf isoliert dann Teile der Kesselwände, die sich dann immer weiter aufheizen. Über kurz oder lang haben wir eingeschmolzene Löcher im Kessel. Sie wissen, was das heißt."

"Monatelanger Produktionsausfall. Ja."

"Es kommt noch schlimmer. Die herunterregnenden Trümmerstücke würden massenhaft Spiegel zerstören. Und dann die Gartenbaufirma, der wir das Land unter den Spiegelflächen verpachtet haben - die wollen ja auch Entschädigung haben, wenn wir mit schwerem Gerät da durchfahren."

Brochmann trat ans Fenster. In einigen Kilometern Entfernung ragten die beiden Türme in den Himmel. Ein gewohntes Bild. Nur, daß jetzt die Spitze des Wartungsturmes in gleißendem Licht strahte. Rauch stieg auf, Trümmerstücke sprühten ab und zu herunter.

"Und da ist niemand mehr am Leben?" fragte er.

"Kaum. Die Turmspitze ist jetzt ein Hochofen."

"Und wenn wir den neutralen Focus ..."

"Das ist doch der neutrale Focus! Aus irgendeinem Grunde versteht der Rechner unter dem neutralen Focus jetzt die Spitze des Wartungsturmes. Darf ich einen Vorschlag machen?"

"Ja?"

"Wir schalten den Rechner ab. Die Sonne wandert ja weiter. In einer halben Stunde ist der Wartungsturm frei. Und bis morgen könnten wir die meisten Spiegel manuell dejustieren. Wir bräuchten dazu allerdings einige hundert Fachleute - wahrscheinlich mehr. Keine Ahnung, wo wir die herkriegen sollten."

"Mmh. Das geht also nicht."

"Nein. Aber zusätzlich könnte man versuchen, den Wartungsturm näher an den Kesselturm zu fahren. Dann würden in vierundzwanzig Stunden die Strahlen sich in freier Luft kreuzen."

"Fährt der Wartungsturm noch?"

"Müßte eigentlich. Die Turmbasis ist unbeschädigt."

"Gut. Veranlassen Sie das. Und rufen Sie die Firma POWERSOFT an. Die sollen rausfinden, warum der Rechner soviel Blödsinn macht."


"Endlich wieder Licht" sagte jemand. Balduin trat vom Beobachtungsschlitz zurück.

"Besser kriege ich es nicht hin. Das Fenster hat mechanische Toleranzen. Sonst hätte ich nicht mal diesen Spalt aufgekriegt, ohne Strom. - Das ist im ganzen Kraftwerk dasselbe: Überall die billigste Lösung. Als ob die Gesellschaft gleich in den Konkurs gegangen wäre, wenn man hier eine Handkurbel spendiert hätte."

"Und was jetzt?"

Balduin drehte sich um und sah sein Grüppchen an.

"Warten. Sie werden den Focus vom Turm wegnehmen. Wenn die Räume um den Zentralschacht ausgeglüht sind, können wir da durch. Aber der Lift wird wohl nicht mehr funktionieren."

"Und wenn sie den Focus nicht wegnehmen?"

"Verglüht der Turm wie Zunder. Stellen Sie sich hunderte von Tonnen von Eisenoxyd vor, die alle auf die Spiegel da unten herunterregnen. Nein, sie werden recht flink was unternehmen. - Nicht wegen uns, sondern wegen ihrer teuren Spiegel." fügte er cynisch hinzu.

Er trat wieder an die Gangtür:

"Ich habe den Eindruck, sie haben auch schon etwas unternommen. Das Glühen ist kaum noch sichtbar. Aber wir kommen natürlich nicht durch. Noch nicht."

Der Boden zitterte. Schwach, aber gerade stark genug, daß einige es merkten.

"Kippt der Turm um?" fragte das kleine Mädchen ängstlich.

"Nein. Glaube kaum." Balduin trat wieder an den Sehschlitz. "Aber es ist möglich, daß der Turm fährt."

"Und warum?"

"Was weiß ich. Vielleicht wollen sie ihn kühlen, mit Fahrtwind. Die Wirkung dürfte aber nicht sehr groß sein. Komisch - er kann doch nur in Schrittgeschwindigkeit fahren."

Er hängte sich wieder an den Sehschlitz, ebenso einige der Touristen. Für alle war nicht genug Platz, weil der Schlitz nur wenige Meter breit war.

Immerhin, es war klar: Der Kessel wurde nicht mehr angestrahlt. Das Meer von Spiegeln da unten war regelmäßig ausgerichtet, aber es war schwer zu erkennen, wo sich der Focus im Moment befand. Wahrscheinlich seitlich vom Wartungsturm, wo sie ihn nicht sehen konnten.

Balduin wußte, wo unter den Spiegeln die Fahrwege waren. Er hatte den Eindruck, daß dort überhaupt kein Verkehr war. Kümmerte man sich den überhaupt nicht um sie?


"Natürlich haben wir den Sourcecode parat. Hier, in den Listings, steht alles drin. Aber das heißt noch lange nicht, daß der Fehler in Minuten zu finden und zu beheben ist."

Dr. Koch war gerade eben eingetroffen, direkt mit dem Hubschrauber. Er war Chefprogrammierer an dem System gewesen, das das Kraftwerk steuerte. Und jetzt war er der einzige, der erreichbar gewesen war.

Lindner beschwichtigte:

"Jaja, ich weiß. Aber wir müssen alles versuchen. Jede Stunde, die das Kraftwerk nicht läuft, kostet die Gesellschaft eine Viertelmillion. Sie wissen ja, was die Kilowattstunde im Moment kostet."

Koch setzte sich. Die Listings interessierten ihn überhaupt nicht.

"Haben Sie einen Dump?" fragte er.

"Einen was?"

"Einen Speicherabzug. Am besten ausgedruckt kurz nach Herunterfahren des Rechners."

"Nein. Wir haben den Rechner einfach abgeschaltet. Da ist nichts ausgedruckt worden."

"Schade. Nun gut. Unser System ist gut strukturiert. Wir werden es schon rausfinden. - Die Luft in dem Hubschrauber war übrigens ziemlich trocken."

Lindner sprang auf wie ein Stehaufmännchen. Nach dreißig Sekunden stand ein Bier vor Koch auf dem Tisch. Dieser sah Lindner an wie ein Lehrer einen Schulbub, der eine besonders blöde Zwischenbemerkung gemacht hatte. Siedendheiß fiel Lindner ein, daß Koch keinen Alkohol trank.

"Das ist für mich!" sagte er schnell, und griff nach dem Glas. Dabei stieß er es um. Dr. Koch hatte jetzt eine nasse Hose. Und Lindner einen roten Kopf.

"Eh, Entschuldigung, ich, eh. Sofort."

Da saß der Mann, der ihnen möglicherweise das Kraftwerk wieder in Gang bringen konnte. Der primäre Störfall war inzwischen identifiziert - ein falsch gesetztes Ventil hatte den Druckabfall verursacht. Sie hätten das Kraftwerk wieder anfahren können - allerdings nicht mit der Software, die den Wartungsturm ansengte. Da saß also der Mann, der ihnen die Software reparieren konnte. Vielleicht. Und was tat er, Lindner? Er schüttete ihm Bier über die Hosen.

Als sie nach etwa drei Minuten, in denen die Gesellschaft weitere 12500.- ärmer geworden war, sich gegenübersaßen, beide mit einem Orangesaft vor sich, begann Koch zu monologisieren:

"Also. Statt auf den Nullfocus hat der Rechner auf den Wartungsturm focussiert. Wir brauchen uns das Listing garnicht anzusehen. Der Fokussierungsalgorithmus ist in Ordnung. Er wird ohnehin nur mit zwei möglichen Parametern aufgerufen: Mit den Kesselkoordinaten, und mit dem Nullfocus fünfhundert Meter drüber. Andere Brennpunkte tauchen überhaupt nicht auf, jedenfalls nicht als Sollbrennpunkte."

"Die Koordinaten der Spitze des Wartungsturmes befinden sich in einem Array. Das ist notwendig, weil der Wartungsturm fahrbar ist. Er hat also mehrere Positionen. Das Array ist von 0 bis 15 indiziert, weil eine Ortsauflösung von 10 Metern ausreicht. 150 Meter Fahrstrecke. Die Werte der aktuellen Koordinaten der Wartungsturmspitze werden von dort in eine lokale Variable des Algorithmus gebracht, der darauf aufpasst, daß genau auf diese Koordinaten nicht focussiert wird. Wenn doch, dann sofort Focus auf Nullkoordinaten. 'raise FOCUS_ERROR;' Ganz einfach. Können Sie folgen?"

"Ja." sagte Lindner, "hört sich einfach an. Übrigens sind es zweihundert Meter."

"Was?"

"Zweihundert Meter. Die Fahrstrecke für den Wartungsturm. Kurz nach Fertigstellung des Kraftwerkes haben wir uns entschlossen, die Schienen nach hinten zu verlängern, um den Wartungsturm im Betrieb noch weiter vom Kesselturm abziehen zu können. Aus Sicherheitsgründen. Sie verstehen."

Lindner's Stimme gewann wieder an Festigkeit, als er diese Maßnahme schilderte. Er hatte sie selbst veranlasst und war darauf auch besonders stolz. Schließlich war der Wartungsturm noch nie ausgefallen - bis heute. Er brauche das jetzt, als Stütze für sein Selbstbewußtsein - nach dem Vorfall mit dem Bier.

"Sie haben die Schiene nach hinten verlängert. Soso." Koch sperrte Mund uns Nase auf: "Und wer hat die Software angepasst?"

Zehn Sekunden Schweigen (695.- Verlust für die Gesellschaft). Prüfungsatmosphäre.

"Nun, wer? POWERSOFT jedenfalls nicht."

"Nein." Wie gut, daß Brochmann nicht zugegen war. Naja, Brochmann würde den leitenden Ingenieur sowieso für alles verantwortlich machen.

"Nein, ich fürchte, da ist nichts angepasst worden. Nicht, daß ich wüßte. Ich dachte ..." Was hatte er denn damals gedacht? Daß Software immer funktioniert, immer zuviel kostet, und sowieso ein genauso wenig fassbarer Zusatz zum Ganzen ist wie Gebrauchsanleitungen. Irgendwie notwendig, aber naja. Und er hatte sich - zu Recht vermutlich - für immer noch gescheiter gehalten als Brochmann, der vermutlich glaubte, einen Computer kauft man, stellt ihn auf, schließt ihn an und er macht dann seine Arbeit.

"Da ist nichts gemacht worden." Eingeständnis einer Niederlage.

Koch schien fast befriedigt. Vielleicht täuschte das aber, und er war nur darüber befriedigt, daß seine Hose in der Wüstenatmosphäre schnell trocknete. Sogar das Stadium der Klebrigkeit würde bald vorbei sein. Blieb nur das Problem, wie ein Softwarehaus einem Betreiber eines Solarkraftwerkes eine Reinigung einer Hose in Rechnung stellen sollte.

"Dann ist eigentlich schon klar, was passiert ist." sagte er.

"Die Meßwertaufnehmer, die die Position des Wartungsturmes messen, haben Werte geliefert, auf die das Programm nicht vorbereitet war. Uns war nur 150 Meter Fahrstrecke bekannt, dafür waren die verbotenen Focuskoordinaten in jenem Array gespeichert, das ich erwähnte. Wenn der Turm jedoch noch weiter zurückrollte, dann wurden die Positionen aus Speicherstellen geholt, die NEBEN diesem Array lagen. Drüber oder drunter, das weiß ich nicht. Aber: Neben diesem Array-Objekt lagen im Speicher ja noch andere Dinge. Zum Beispiel die Daten-Objekte, die die Kesselkoordinaten enthielten, und den Nullfocus."

Koch stand auf.

"Ja, so muß es gewesen sein. Für den Transport dieser Koordinaten verwendeten wir eine Tauschroutine, um alle Datenbewegungen beim Rückfahren des Turmes rückgängig zu machen. Dann haben andere Programmierer aber auch einfache Zuweisungen verwendet. Es ist ein bißchen unübersichtlich geworden. Ich glaube nicht, daß ich das so schnell verfolgen kann. Übrigens, Sie hätten sich den Ärger sparen können, wenn Sie damals die nächstgrößere Maschine gekauft hätten."

"Wieso?"

"Wir haben das System in Ada programmiert."

Koch sah, daß Lindner schon wieder nicht mehr mitkam.

"Ada ist eine Programmiersprache. Eine gute Programmiersprache. Sie sorgt dafür, daß manche Fehler des Programmierers noch abgefangen werden, wenn das Programm schon läuft. Es werden sogenannte Laufzeitchecks generiert. Damit wird zum Beispiel verhindert, daß man bei einem Zugriff auf ein Array-Objekt daneben greift, weil ein Index falsch berechnet wurde. In C passiert einem das alle Tage."

"Aha. C?"

"C ist auch eine Programmiersprache. Wir haben aber Ada verwendet. ADA!"

"Ada."

"Ja. Also. Normalerweise kann man in Ada solche falschen Array-Zugriffe einfach nicht machen. Sie wollten damals aber mit der kleinsten Maschine auskommen, mit der man das Steuerungssystem des Kraftwerks gerade eben noch fahren konnte. Da Laufzeitchecks Zeit verbrauchen, hätte ein normal compiliertes Ada-Programm die nächstgrößere Maschine benötigt. Die Gesellschaft wollte soviel Geld nicht ausgeben. Also: Die kleinste Maschine. Damit das Steuerungsprogramm überhaupt lief, mußte es unter Verwendung der Compileranweisung 'pragma SUPPRESS' compiliert werden - das unterdrückt alle Laufzeitchecks. Das Programm ist etwas kleiner und schneller. Aber unsicherer. Das Ergebnis sehen Sie jetzt."

"Herr Brochmann bestand auf den Rechner." verteidigte Lindner sich.

"Das ist mir egal. Ich bin nicht hier, um mit Schuldzuweisungen den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Überlegen wir uns lieber, was wir machen. Haben Sie einen regulären Shutdown gemacht?"

"Ja, wie in der Betriebsanleitung!"

"Sehr gut. Dann sind die Daten noch auf Platte. Wie spät ist es jetzt? Wir fahren die Anlage wieder hoch. Wie ich Sie vorhin verstanden habe, ist das Problem am Kessel selbst doch behoben? Gut. Wir fahren den Rechner wieder hoch. Der Focus bleibt auf Nullfocus - das ist im Moment noch der falsche Koordinatensatz."

Lindner strahlte. Die Gewißheit, das Problem lösen zu können, die Koch ausstrahlte, teilte sich ihm mit. Koch fuhr fort:

"Dann fahren wir den Wartungsturm wieder zurück. Dabei kommt er noch einmal in den Focus, aber Sie haben ja schon gesagt, daß er sowieso schon recht demoliert ist. - Wir fahren ihn in die Extremposition zurück, und das Programm wird den Fehler vorläufig wieder rückgängig machen. Die Tauschroutinen. Dann fokussieren Sie wieder auf den Kessel und können die letzten paar Stunden des Tages sogar noch einige Millionen Kilowattstunden erzeugen. Und nach Einbruch der Dunkelheit machen wir einen weiteren Speicherabzug. Ich sehe mir inzwischen mal die Listings an."

Als Lindner wenige Minuten später Brochmanns Büro betrat, strahlte er bereits eine Siegessicherheit aus, auf die allein ein Politiker schon zehntausend Wählerstimmen bekommen hätte.


"Also, wenn es ganz dunkel wird, kommen wir heute überhaupt nicht mehr runter," sagte Balduin, "ich glaube nicht, daß im oberen Teil des Turmes überhaupt noch eine einzige elektrische Leitung funktioniert. Aber ich habe mir die Tür zum Zentralschacht angesehen. Sie ist nicht zugeschmolzen, und da stand sogar noch ein Werkzeugkasten rum. Ich könnte die Tür aufschlagen. Tür und Wände sind noch glühend heiß. Aber von unten ist ein starker Zug, wenn die Tür erst einmal offensteht. Die Nottreppe ist eine Art Feuerleiter - man kann so darauf gehen, daß man das Geländer nicht berührt, wenn man vorsichtig ist. Und weiter unten ist sowieso wieder alles normal."

"Und da ist überhaupt kein Licht? Da gehe ich nicht runter!" Eine Frau mittleren Alters, die ohnehin schon häufiger auf die Gesellschaft im allgemeinen und Balduin im besonderen geschimpft hatte, fing wieder an, sich zu produzieren.

"Dann bleiben Sie eben hier! Das wird ungemütlich, ich sage es Ihnen! In der Wüste geht nachts ein kalter Wind. Gerade in dieser Höhe! Es wird Ihnen nichts passieren - es wird nur ungemütlich! Also: Wer geht mit? Wer will noch heute nacht in einem richtigen Bett schlafen und etwas Vernünftiges essen?"

Und siehe, alle wollten mit.

"Also. Mir nach. Und Vorsicht. Es ist nicht ganz dunkel, solange draußen noch Tag ist. Wenn man im oberen Teil Wände und Geländer anfassen könnte, wäre es überhaupt kein Problem. Aber Vorsicht. Ab da vorne ist alles zu heiß zum anfassen. - Wie gut, daß keiner barfuß ist."


"Nun, Lindner, meinen Sie, der Koch schafft's?"

Brochmann stand am Fenster. Die letzte Abendsonne, focussiert durch alle Spiegel, ließ den fernen Kessel in glanzvollem Rot erstrahlen. Man konnte aber schon wieder in das Licht hineinsehen. In der Tat, das Kraftwerk war wieder erfolgreich in Betrieb gegangen.

"Der schafft's. Fantastisch. Der setzt sich hin, guckt den Code garnicht an, und weiß nach wenigen Minuten, wo der Fehler ist, und wie man ihn provisorisch umgeht."

Lindner vermied es, auf den unkoordinierten Ausbau der Schienen des Wartungsturmes einzugehen.

"Komisch," sagte Lindner, "so helle Köpfe. Aber dauernd läuft etwas falsch, mit dieser Software. Woher das wohl kommt."

"Na, jedenfalls sind wir wieder am Netz. - Was sagen wir der Presse? Der Hubschrauber mit dem Staatsanwalt ist auch schon unterwegs."

Beide schwiegen. Technisches Versagen würde die Diagnose wohl lauten. Koch würde sicher schweigen. Lindner hatte erreicht, daß ihm ein hohes Honorar in Aussicht gestellt wurde. Trotzdem - dreißig tote Touristen. Und Lindner wußte, daß es nicht hätte sein müssen.

"Der Wartungsturm war schon beim ersten Durchgang völlig unbrauchbar. Wir haben ihm nur noch den Rest gegeben."

Lindner seufzte und sah den fernen Wartungsturm an, der ein bißchen wie ein ausgefranstes Stück vieladriges Kabel aussah.

"Hoffentlich ging es schnell. So einfach verbrennen - im Hochofen - grauenhaft."

Er hatte recht.


Erstabdruck C'T 11/1989, Seite 390 .. 398
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Der Abdruck dieser Geschichte erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Heise-Verlages. Abweichungen zur ursprünglich abgedruckten Fassung sind möglich, aber nicht beabsichtigt und alleine meiner Unkonzentriertheit zuzuschreiben.

Späterer (1999-12-11) Einschub: Diese Geschichte erschien vor einigen Jahren in der Anthologie "Computer Stories" des Heise-Verlages. Dadurch gingen die Rechte an dieser Geschichte an uns zurück.